Die Whistleblower-Website Wikileaks hat einen Scoop gelandet, wie man ihn bisher nur großen Verlags- oder Medienhäusern zugetraut hat. Am 6. April stellte Wikileaks ein geheimes Video der US-Armee ins Netz, das die Tötung von einem Dutzend Zivilisten, darunter zwei irakische Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters, in Neu-Bagdad am 12. Juni 2007 zeigt.
Der Sachverhalt war also nicht neu, zumal Reuters damals vom US-Militär Aufklärung verlangt hatte. Neu waren aber die frappierenden, aus einem der beiden angreifenden Apache-Hubschrauber aufgenommenen Bilder samt O-Tönen der Schützen ("Oh, yeah, look at those dead bastards." - "Nice.").
Investigative Konkurrenz
Die spektakuläre Veröffentlichung hat im Netz eine Reihe von Diskussionen und Mutmaßungen bis hin zu Verschwörungs-Theorien darüber ausgelöst, warum die Bilder nicht über ein traditionelles Medium, sondern über das Internet durchsickerten. Hatten sich die großen US-Medienhäuser nicht getraut, das Video zu veröffentlichen? Haben die Medien versagt? Fakt ist, dass den etablierten Medien, die sich als investigativ begreifen, in Sachen Erstveröffentlichung mit Wikileaks ein ernstzunehmender Konkurrent erwachsen ist. Ein Konkurrent allerdings, der sich selbst als vollkommen unabhängig präsentiert und auch keine Medienmarke im traditionellen Sinne darstellt, sondern erst durch die Publikations-Plattform Internet möglich wurde.
Nach eigener Darstellung ist Wikileaks ein ehrenamtlich geführtes Projekt, gegründet von "chinesischen Dissidenten, Journalisten, Mathematikern und Technikern aus Startup-Firmen aus den USA, Taiwan, Europe, Australien und Südafrika". Die Betreiber verbergen sich hinter Phantasie-Namen; die Anonymität soll sie und vor allem ihre Quellen schützen. In der Öffentlichkeit sind als Repräsentanten zwei Wikileaks-"Sprecher" etwa beim letzten Kongress des Chaos Computer Clubs aufgetreten. Wikileaks publiziert nur Original-Dokumente, die über eine verschlüsselte Internet-Verbindung eingereicht werden, und verspricht Whistleblowern absoluten Quellenschutz.
Unbescheidener Spenden-Aufruf
Anders als kommerzielle oder öffentlich-rechtlich organisierte Medien finanziert sich Wikileaks aus Spenden - laut einer Liste von Kontributoren unter anderem von Bürgerrechts-Organisationen und US-Medienhäusern. Der jährliche Finanzbedarf wird mit 600.000 Dollar angegeben. Trotz ehrenamtlicher Arbeit ist das Projekt allerdings unterfinanziert. So sah man zum letzten Jahreswechsel statt der normalen Wikileaks-Website einen unbescheidenen Spenden-Aufruf: "Wir schützen die Welt - werden auch Sie uns schützen?"
Wikileaks habe hunderttausende von Dokumenten-Seiten über korrupte Banken, US-Gefängnisse, den Irakkrieg, China, die Vereinten Nationen und viele andere veröffentlicht, über 100 Klagen erfolgreich überstanden und zahlreiche Preise erhalten, hieß es dort. "Diese Auszeichnungen bezahlen aber keine Rechnungen". Anstehende Veröffentlichungen würden gestoppt, solange nicht genug Geld für den weiteren Betrieb einginge.
Offenbar haben die Drohungen gefruchtet. Die Veröffentlichung des geheimen US-Militärvideos zeigt, wozu das Wikileaks-Netzwerk, das neben fünf Vollzeit-Mitarbeitern aus 800 Helfern bestehen soll, fähig ist - auch in technischer Hinsicht. Für die Dechiffrierung des verschlüsselten Videos erbaten die Macher sogar via Twitter Kontributionen in Form von Rechenzeit ("Have encrypted videos of US bomb strikes on civilians ... we need super computer time").
Der Schleier der Anonymität, hinter dem Wikileaks arbeitet, hat dem Projekt allerdings auch Skepsis eingetragen - auch unter Journalisten, die es gewohnt sind, unter Recherchen ihren Namen zu setzen. An dem Video-Scoop konnte und wollte aber selbst die ehrwürdige Tagesschau nicht vorbeigehen. Das Material sei eingehend auf Authentizität geprüft worden, bloggte ARD-Aktuell-Chef Kai Gniffke dazu. "Ich bin mir sicher, dass die Zahl solcher Fälle in Zukunft zunehmen wird. Deshalb müssen wir intern Strukturen schaffen, die einen verantwortungsbewussten Umgang mit diesem Material ermöglichen."