Titelseiten sind das Gesicht einer Zeitung, ihren Machern gelten sie geradezu als heilig. Diese Unantastbarkeit hat allerdings Brüche bekommen, seit die Kasse der Presse klemmt. So färbte sich beispielsweise die
Welt blau ein, um eine Anzeigenkampagne von AOL ins rechte Licht zu setzen. Mancher Redakteur wurde da rot im Gesicht - vor Zorn oder auch vor Scham, weil die Werbung seine Zeilen grundierte.
Nun hat der Berliner
Tagesspiegel den endgültigen Schritt getan. Das Bekleidungshaus H&M durfte die erste Seite der Freitagsausgabe kaufen. An dem Tag, an dem Arafats Tod Titelthema war, zierte die Eins eine ganzseitige Anzeige, in dem der schwedische Discounter den Start einer Kollektion des Modeschöpfers Karl Lagerfeld signalisierte. Die redaktionelle Titelseite lag darunter.
Über der posterartigen Werbung blieb wenigstens noch ein bisschen Platz, um die journalistischen Inhalte der Zeitung kästchenweise anzukündigen. Und ganz oben prangte natürlich noch der Tagesspiegel-Schriftzug mit dem schönen Motto:
"rerum cognoscere causas". An diesem Tag wusste der Tagesspiegel-Leser immerhin ganz genau, was die Chiffonbluse kostet: neunundreißigneunzig. Und er ahnte die Causa: Die Anzeigenabteilung war stärker als die Redaktion.
Tabu gebrochen
Der Anzeigen-Coup sei
"leider und Gott sei Dank" nur eine
"Einmalaktion" gewesen, zitiert die
Süddeutsche Zeitung Holtzbrinck-Zeitungsvorstand Michael Grabner. Das mag man kaum glauben. Auch die
Frankfurter Rundschau titelte übrigens mit Lagerfeld - nicht komplett, aber zur Hälfte. Damit sind ausgerechnet zwei finanziell angeschlagenen bürgerlichen Blättern
"die Knie weich" geworden, wie die
Tageszeitung schrieb.
"Ein Tabu gebrochen" habe der Tagesspiegel, meinen die Kollegen von der
Berliner Zeitung. 100.000 Euro oder mehr habe die Aktion eingebracht. Neidisch? Vielleicht sind die beiden Zeitungen bald keine richtigen Konkurrenten mehr, wenn nämlich Holtzbrinck doch noch einen Weg findet, beide Blätter unter einen Hut zu bringen. Bislang wird das vom Kartellamt noch verhindert.
Doch die Zeichen der Zeit weisen in eine andere Richtung. Per Gesetz sollen wettbewerbsrechtliche Schranken geöffnet werden, um weitgehende Anzeigenkooperationen zu gestatten. Das würde dann einem in der Werbebranche als innovativ geltenden Unternehmen wie H&M konzertierte Anzeigen-Coups ermöglichen. Am selben Tag auf dem Titel von Tagesspiegel
und Berliner - na, wie wäre das?