Redakteur ohne Kontonummer: Die "Readers Edition" der Netzeitung versucht Bürgerjournalismus

Im Labyrinth der Inhalte. Die neue Readers Edition der Netzeitung
Im Labyrinth der Inhalte. Die neue Readers Edition der Netzeitung


Mal angenommen, Sie hielten sich für ein Schreibtalent. Oder einen guten Fotografen. Vielleicht wollten Sie schon immer "was mit Medien machen". Würden Sie sich dann von dem unbescheidenen Aufruf "20 Millionen Redakteure gesucht" angesprochen fühlen und sich auf einer Website registrieren, die von einem professionellen Medienunternehmen, einer Online-Tageszeitung, ins Netz gestellt wurde, und die Ihnen verspricht: "Werden Sie selbst Redakteur"?

Wären Sie dann überrascht, dass Sie bei der Registrierung keine Kontonummer angeben müssten? (weil die Mitgliedschaft kostenlos ist, aber auch keine Honorare gezahlt werden). Würden Sie sich ärgern, wenn Ihr Artikel nicht publiziert wird, weil einer der Moderatoren ihn doch nicht der Öffentlichkeit zumuten will?

Bürgermedien und Volkskorrespondenten
Die Antwort auf diese Fragen verspricht ein neues Projekt der Netzeitung, die sich seit sechs Jahren daran versucht, das Oldschool-Modell der Zeitung ins Online-Medium zu transferieren. Die Readers Edition ist hingegen neue Schule: Citizen media lautet die Losung aus den USA, Bürger machen Medien. Für Furore hat das Modell schon in Südkorea gesorgt, wo eine Website namens Ohmynews.com über 40.000 Bürgerreporter zählen soll.

Ganz neu ist das Konzept auch in Deutschland nicht. Die Rheinische Post bedient sich seit einem Jahr des Internets, um ihre Leser als freiwillige Autoren zu aktivieren; Opinio erscheint auch als wöchentliche Printbeilage. In der DDR kannte man einst die Volkskorrespondenten. Die alte Bundesrepublik wiederum experimentierte mit Piratensendern, Bürgerradios und offenen Kanälen. Was damals viel technischen Aufwand bedeutete, ist dank des Internets fast für jeden Einzelnen möglich.

Womit würden also Bürger ihre Medien füllen, wenn Sie selbst das Sagen hätten? Das ist eine spannende Frage, die sich Journalisten ("... und immer an den Leser denken") gelegentlich auch stellen - zumal das Internet zunehmend als Bedrohung für die klassischen Medien empfunden wird, in denen ja wenige Wissende vielen Unwissenden kommunizieren, was wichtig sei.

Eigentlich wird diese Frage aber schon längst beantwortet. Längst gibt es jenseits der etablierten Medien kollaborative Websites, die Nachrichten publizieren. Besonders bewährt hat sich dafür Wiki-Software. Und längst gibt es eben auch Weblogs, deren Autoren - in der "Blogosphäre" miteinander vernetzt - via Internet an einer großen Saga mitschreiben.

Ziemlich klassisch
Womit füllt sich nun die neue Readers Edition? Und wer füllt sie? Zunächst mal kommt sie angenehmerweise (noch) ohne Werbung. Sonst sieht sie aber mit ihrer klassischen Ressorteinteilung aus wie ein ganz normaler News-Dienst, nur eben umrahmt von Weblog-Features, Kommentar- und Bewertungsfunktionen. In einigen Artikeln kanalisiert sich jenes Engagement für Themen, die sonst im Medien-Mainstream untergehen mögen. Andere referieren nur das anderswo Gelesene.

Dass sich unter den ersten Autoren offenbar viele freie Journalisten und Fotojournalisten befinden, wirkt ernüchternd: Journalisten machen Bürgerjournalismus? Hey, das klingt etwa so aufregend, wie wenn Heino den deutschen Schlager neu erfinden würde. Es verrät wohl auch etwas über die schwierige Lage des Berufsstandes; Profis arbeiten normalerweise gegen Bezahlung. Honorar wird aber nur in Aussicht gestellt, wenn es ein Artikel in die Netzeitung schafft - also die Weihen des guten, alten Journalismus erfährt.

Dass die Readers Edition tatsächlich nach solchen Weihen strebt, zeigen die Kommentare: Immer mal wieder wird dort über Stilfragen diskutiert - Zitat: "Dieser Abschnitt gefällt mir ganz und gar nicht. Bitte noch mal überarbeiten oder am besten ganz herausnehmen".

Nicht weniger als 2.500 Anmeldungen sollen in der ersten Woche bereits bei der Readers Edition eingegangen sein. Eine stolze Zahl. Es werden - hoffentlich - nicht alles Journalisten sein.
Zuletzt bearbeitet 07.06.2006 13:40 Uhr