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Stammzell-Poesie: Vom möglichen Nutzen der Stammzelltechnologien in der Medizin

Prof. Dr. Christopher Baum, Labor für Experimentelle Zelltherapie,
Abt. Hämatologie und Onkologie der Medizinischen Hochschule Hannover

Gegenwärtig liest und hört man viel über das Potential der neuen Stammzelltechnologien für die Medizin. Nicht immer ist es einfach, Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Zahlreiche experimentelle Befunde legen in der Tat nahe, dass Stammzellen über ein ausgesprochen breites Entwicklungspotential verfügen und Anlass zur Regeneration einer Vielzahl geschädigter Organe und Gewebe geben können. Klinische Befunde bestätigen beispielsweise, dass aus blutbildenden Stammzellen des adulten Knochenmarks Zellen entstehen können, die in soliden Organen wie der Leber oder dem Herzen Reparaturfunktionen übernehmen können. Die therapeutische Anwendung von Stammzellen ist allerdings in der Medizin bislang nur im Rahmen der Regeneration der Blutbildung etabliert. Die Möglichkeit der gezielten Reparatur oder Regeneration anderer Zelltypen durch Gabe von Stammzellen muss in kontrollierten Studien überprüft werden und erfordert gründliche Vorarbeiten aus der präklinischen Grundlagenforschung und Technologieentwicklung. Eine aktuell heftig diskutierte Frage ist die der besten Zellquelle. In jüngerer Zeit häufen sich Stellungnahmen, dass die Verwendung unreifer embryonaler Stammzellen eine unverzichtbare Option in der Entwicklung der regenerativen Medizin darstelle. Allerdings werden deren Vor- und Nachteile nicht immer umfassend dargestellt. Wie bei jeder Therapie muss auch die Verwendung von Stammzellen Grundkriterien der Qualität, Quantität, Wirtschaftlichkeit und gesellschaftlichen Akzeptanz erfüllen. Embryonale Stammzellen können aus den frühen Phasen der Embryonalentwicklung gewonnen werden, die sich vor der Einnistung in die Gebärmutter abspielen und prinzipiell in vitro, d.h. in der Zellkultur, nachvollziehbar sind. Embryonale haben adulten Stammzellen die Fähigkeit zur nahezu unbegrenzten Vermehrung in der Zellkultur und zur Differenzierung in eine Vielzahl unterschiedlicher reifer Zelltypen voraus. Die Erfahrungen mit menschlichen embryonalen Stammzellen sind aber begrenzt. Gewebetypidentische (autologe) embryonale Stammzellen lassen sich nach dem gegenwärtigen Stand der Kenntnis nur über das “therapeutische” Klonen herstellen. Dieser Prozess ist allerdings noch nicht mit vorhersagbarer Effizienz und Sicherheit des Ergebnisses durchführbar. Dies liegt an der Ungewissheit über die genetische Qualität des eingesetzten Körperzellkerns und an der mangelnden Vorhersagbarkeit des epigenetischen Reprogrammierungsvorgangs, der durch das Einbringen des Zellkerns in ein molekular noch wenig definiertes Milieu (Zytoplasma) einer Spendereizelle eingeleitet werden soll. Neben diesem Problem der Identität besteht ein weiteres kritisches Problem des “therapeutischen” Klonens in der unzureichenden Zellmenge. Man beginnt per definitionem (“Klonierung”) mit einer einzigen Zelle, die erst zu klinisch relevanten Zahlen vermehrt werden muss. Da ca. eine Milliarde Zellen notwendig sind, um nur ein einziges Gramm Gewebe zu bilden, und embryonale Stammzellen des Menschen eine Teilungsrate von 24-48 Stunden haben, würde die Expansion auf klinisch relevante Zellmengen wenigstens ein bis zwei Monate erfordern. Zwar sind in jüngerer Zeit Fortschritte hinsichtlich der Entwicklung standardisierbarer Verfahren zu verzeichnen, durch die menschliche embryonale Stammzellen auch ohne Verwendung tierischer “Fütterzellen” in Kultur gehalten werden können. Am Ende des Expansionsprozesses ist dennoch in jedem Fall sicherzustellen, dass die gewonnenen Zellen genetisch und funktionell intakt sind. Erfahrungen mit anderen menschlichen Zelltypen legen nahe, dass unter forcierter Expansion ein klarer Trend zum Auswachsen von Mutanten besteht, die schwerwiegende, insbesondere onkogene (tumorfördernde) genetische Fehler aufweisen. Der Expansionsprozess muss daher nicht nur unter standardisierten Bedingungen in spezialisierten Produktionseinrichtungen durchlaufen werden, sondern erfordert auch eine aufwendige Qualitätssicherung des Produkts. Die Kosten werden voraussichtlich deutlich über € 25.000 pro Anwendung liegen. Nach gelungener Expansion ist je nach Indikation noch eine gezielte Differenzierung der Zellen notwendig. Undifferenzierte Stammzellen haben nämlich keine Organfunktion. Dies wirft weitere biologische und technische Probleme auf und wird die Kosten des Herstellungsprozess und der Qualitätssicherung weiter steigern. Schließlich sind umfangreiche präklinische Untersuchungen mit Langzeitbeobachtungen im Tiermodell notwendig, um die Folgen der Implantation künstlich expandierter embryonaler Zellen oder deren Tochterzellen zu untersuchen. Besonderes Augenmerk erfordert die Sicherstellung der korrekten Zellfunktion, entsprechend der jeweiligen therapeutischen Anforderung, unter gleichzeitigem Ausschluss der Bildung störender Fremdgewebe oder gar der malignen Entartung. Daher ist mit jahrelangen aufwendigen Entwicklungen zu rechnen, bevor solche Zellen klinisch sicher und mit vorhersagbarem Ergebnis verwendet werden können. Die Mengenlimitation legt nahe, dass man auf Quellen zurückgreifen sollte, die von vorneherein eine höhere Ausgangszahl sicherstellen. Dies könnten bereits etablierte embryonale Stammzelllinien sein. Diese sind aber mit dem potentiellen Empfänger genetisch nicht identisch und werden daher Anlass zu immunologischen Komplikationen mit der Konsequenz der Abstoßung und/oder chronischen Dysfunktion geben. Eine interessantere Alternative stellen Organstammzellen dar, die postnatal gewonnen werden können. Unter vergleichsweise geringen Belastungen können beispielsweise nach kurzer medikamentöser Stimulation aus dem Blut betroffener Patienten bis zu eine Million unreifer körpereigener Organstammzellen gewonnen werden. Definition geeigneter Kulturbedingungen vorausgesetzt, würde deren Vermehrung um den Faktor 1000 ca. 10 Tage benötigen. Ein weiterer Vorteil postnataler Organstammzellen besteht in der deutlich besseren gesellschaftlichen Akzeptanz, da sich die Frage nach dem verbrauchenden Umgang mit potentiellen Embryonen nicht stellt. Postnatale Organstammzellen sind allerdings entsprechend ihrer jeweiligen Herkunft milieuadaptiert. Daher ist es in der Regel nicht einfach, geeignete Bedingungen für ihre Vermehrung in der künstlichen Zellkulturumgebung darzustellen. Investition in Forschung, die sich mit innovativen Lösungsansätzen dieser Frage widmet, hat daher einen hoen Stellenwert. Die Milieuadaptation der Organstammzellen mag auch der Grund dafür sein, dass ihre Differenzierung in andere Gewebetypen, die nicht ihrem Ursprungsgewebe entsprechen, gegenwärtig schwieriger ist als bei ihren embryonalen Vorläufern. In der Fähigkeit zur Milieuadaptation liegt aber auch die große Chance der Verwendung postnataler Organstammzellen. Gelingt es, die kritischen Milieubedingungen in der Zellkultur zu imitieren oder aber durch geeignete Manipulationen das Einwandern in die erwünschte Nische im Körper des Patienten sicherzustellen, werden die Zellen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit den Aufgaben des umgebenden Organs anpassen. Dies zeigen jedenfalls die eingangs erwähnten Zufallsbefunde aus klinischen Beobachtungen nach der Transplantation von Fremdspender-Knochenmarkzellen. Eine wichtige zusätzliche Option ist es, durch die Übertragung von Genen (Gentransfer) das Verhalten der Zellen vor oder nach der Transplantation gezielt steuern zu können. Im Stadium der klinischen Prüfung ist der Gentransfer zum Zwecke der gezielten Abtötung von Zellen für den Fall, dass sie schwere unerwünschte Effekte auslösen. Ein anderes Grundmotiv für eine genetische Intervention ist die gerichtete Vermehrung transplantierter Zellen. In diesem Feld ist in den nächsten Jahren mit ersten erfolgreichen klinischen Studien zu rechnen. Gentransfer könnte auch genutzt werden, die für den jeweiligen therapeutischen Einsatz erwünschte Differenzierung der Zellen zu steuern oder den Zellen eine neue Funktion zu übertragen, die für die Korrektur der Grunderkrankung notwendig ist. Bei allen diesen Manipulationen ist sicherzustellen, dass eine vorhersagbare Effizienz mit einem möglichst geringen Maß an Nebenwirkungen erreicht wird. Wir werden allerdings auch hier lernen müssen, dass erfolgreiche medizinische Eingriffe selten vollkommen nebenwirkungsfrei verlaufen. Menschliche embryonale Stammzellen sollten vor diesem Hintergrund nur für Fragestellungen herangezogen werden, die eindeutig weder im Tiermodell noch mit Organstammzellen zu beantworten sind. Der Zugang könnte über eine zentrale Ethikkommission geregelt werden, ähnlich wie seit Jahren für klinische Gentherapiestudien erfolgreich praktiziert. Hochrangige Ziele der Stammzellforschung sollten mit einer klaren Ausrichtung auf die biologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grenzen der Anwendung verfolgt werden. Eine gezielte Untersuchung der unerwünschten Wirkungen ist mindestens ebenso wichtig wie die Verbesserung der Effizienz. Zugleich ist die permanente Hinterfragung im gesellschaftlichen Diskurs unverzichtbar. Nur so werden konzeptionelle und technologische Fortschritte möglich sein, die zu wertvollen therapeutischen Optionen führen.
Zuletzt bearbeitet 19.04.2002 20:35 Uhr
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