Dass sich Suchdienste aus der neuen Welt des Internets jetzt der alten Welt der Bücher zuwenden, ist nicht nur mediengeschichtlich pikant. Es hat sogar eine philosophische Dimension. Wer Bücher liest, will sie gemeinhin
"verstehen". Die Anführungszeichen sollen besagen, dass Hermeneutiker, Diskurskritiker und andere Theoretiker darüber, ob und wie dieses Verstehen möglich sei, ausführlich debattiert haben.
Den Suchmaschinen sind solche akademischen Streitfälle herzlich egal. Sie verstehen nichts und suchen trotzdem. Darf man aber so mit Büchern umgehen? Man darf, wenn es denn der Absatzförderung dient. Der Online-Buchhändler
Amazon, der mit dem Verkauf dieses alten Mediums zu einem der erfolgreichsten Dot-com-Unternehmen aufgestiegen ist, hat als Erster eine Suchfunktion gestartet, die den Volltext von 120.000 Sachbüchern (die man praktischerweise auch gleich kaufen kann) erschließt.
Die große Bibliothek von Amazonien
Das war zunächst eine technisch-logistische Herausforderung. Denn obgleich die meisten Bücher heutzutage in den Computer getippt werden, wurde eine gigantische Digitalisierungsaktion notwendig, um die
"Große Bibliothek von Amazonien" (so dass US-Magazin
Wired) Realität werden zu lassen. Wie ein Sportschuhfabrikant ließ auch Amazon seine Scans zum Teil in Billiglohnländern fertigen - als gleichsam hochwertige Dumping-Ware für die Informationsgesellschaft.
Das Ergebnis ist beeindruckend, weil es die Bücher in ihrer ehrwürdigen papiernen Fülle geradezu entzaubert: es geht nicht mehr darum, alles gelesen zu haben; es reicht, überall zu suchen. Scheiterten E-Books noch an der mangelden Sinnlichkeit und schlechten Handhabbarkeit von Lesegeräten mit Kleinbildschirmen, soll der Buchkäufer bei Amazon digital suchen, aber analog lesen.
"Search Inside the Book" nennt Amazon das Feature, das den bisherigen
"Look Inside the Book" (Titel, Inhaltsverzeichnis, ausgewählte Seiten) zwar nicht ablöst, aber stark erweitert. Die Volltext-Suchergebnisse sind nun in der ganz normalern Büchersuche enthalten. Exklusiv auswählen lassen sie sich aber nicht.
Rechtsfrei gescannt
Die Copyright-Probleme, die diese Entzauberungs-Mission aufwirft, hat Amazon mit dem Muskel des Marktführers aus dem Weg geräumt. Der Buchhändler hat für seine Digitalisierungsaktion keine Rechte erworben, vielmehr auf der Position beharrt, keine kompletten Bücher bereit zu stellen, sondern nur Suchergebnisse daraus - die Trefferanzeige ist auf ein Faksimile der Fundstelle sowie ein paar Seiten davor und danach begrenzt - zu referenzieren. Zudem ist die Suche an registrierte Mitglieder gekoppelt und die Zahl der Abfragen limitiert.
Damit begegnet man Befürchtung der amerikanischen
Authors Guild, dass sich raffinierte Nutzer dieses Features über die Suchfunktion ein gesamtes Buch zusammenkopieren könnten. Der Autorenverband will auf diese Weise über 100 Seiten eines Bestsellers gefunden haben, was freilich eine recht mühsame Angelegenheit gewesen sein dürfte. Einfacher dagegen ist es, Kochrezepte oder Programmiercodes zu extrahieren. Amazon hat deshalb die Druckfunktion für mit
Search Inside the Book gefundene Seiten wieder entfernt.
Die Liste der Großverlage, die einzelne Titel für
Search Inside the Book freigegeben haben, liest sich imposant. Die Zustimmung sei zwar
"widerwillig" gekommen, wie die Zeitschrift
Publishers Weekly schrieb, doch letztlich war die Hoffnung auf Profite stärker als der Widerstand gegen den größten Buchhändler der Welt: Sollten die Leser das, was sie bei Amazon gefunden haben, auch kaufen, dann haben auch die Verlage etwas davon. Zumindest behauptet Amazon, dass sich nach Einführung des Services die Verkaufszahlen für im Volltext durchsuchbare Bücher überproportional gesteigert hätten.
Auch Google im Rennen
Wenn es ums Suchen (und Geld damit verdienen) geht, ist auch
Google nicht weit. So überrascht es kaum, dass der Suchmaschinen-Platzhirsch mit diversen Verlagen Verträge abgeschlossen hat, auf deren Basis Google insgesamt 60.000 Titel in seine Datenbank integrieren wird. Zudem hat Google laut
Publishers Weekly den Verlagen bereits vorgeführt, wie man sich Recherchen in Büchern vorstellt.
Außerdem wird man bei Google bald auch Bibiothekskataloge durchsuchen können. Möglich macht dies eine Kooperation mit dem
Online Computer Library Center, einer in den USA wurzelnden Non-Profit-Organisation, die sich als Dienstleister für Bibliotheken versteht und inzwischen weltweite Kooperationen pflegt. Mit
WorldCat hat das OCLC einen Katalog erstellt, der 52 Millionen Einträge umfasst und durch Vernetzung immer weiter wächst.
Bibliothekskataloge zu Suchmaschinen
Bisher ist dieser Meta-Katalog nur für Bibliotheken recherchierbar. In naher Zukunft soll er auch für Internet-Suchmaschinen geöffnet werden.
Open WorldCat heißt folglich das Pilotprojekt, das bis Juni 2004 laufen soll. Einem Bericht des Fachzeitschrift
Information Today sollen zunächst zwei Millionen Einträge über Google verfügbar gemacht werden.
Während die Suche mittels Open WorldCat
"nur" bibliografische Angaben, teilweise auch Exzerpte und Kommentare sowie natürlich die Standorte der gefundenen Bücher zu Tage fördern wird, basteln Wissenschaftler und der Internet-Veteran Brewster Kahle, der mit seiner
Wayback Machine das Internet für die Nachwelt rettet, an einem einzigartigen Digitalisierungsunternehmen. Nicht 120.000 Bücher wie beim Händler Amazon sollen es sein, nein: ein
Million Book Project möchten Kahle und die Carnegie Mellon Universität stemmen. Und es soll auch nicht um den schnöden Mammon gehen, sondern um die Bewahrung des Bücher-Erbes.
250 Millionen digitalisierte Seiten
30 Jahre nach den bescheidenen Anfängen des
Projektes Gutenberg ist das ehrgeizige Ziel eine digitale Bibliothek alter und neuer Werke - Umfang: nicht weniger als 250 Millionen Seiten. Eine Testversion mit tausend Büchern - darunter sechs deutschsprachigen Titeln - ist bereits auf Kahles Archive.org-Website integriert. Die Suche ist aber nicht im Volltext, sondern nur in den bibliografischen Daten möglich, und kennt nicht einmal Umlaute.
Ahnlich wie Open-Source-Software soll das
Million Book Project allen Menschen frei zugänglich gemacht werden. Und die Urheberrechte?
"In der neuen digitalen Ökonomie ist es möglich, demokratischen Zugriff auf Informationen zu ermöglichen, während der Autor angemessen und begründet entlohnt wird", heißt es im FAQ des Projektes. Selbst Autoren literarischer und wissenschaftlicher Publikationen, so wwird argumentiert, könnten ihre Werke besser verkaufen, wenn diese frei im Web zugänglich seien.
Demokratie und Kommerz passen in Amerika eben immer gut zusammen.